Warum Singen unsere Gesundheit fördert
Viele Menschen halten sich selbst für unmusikalisch und überlassen das Singen vermeintlichen Profis. Doch Singen hat nachweislich positive Auswirkungen auf unsere körperliche und seelische Gesundheit, ganz gleich, ob wir in einem Chor auftreten oder alleine vor uns hinsummen.
Die psychische Wirkung des Singens: Heilsame Kraft für die Seele
Unsere Stimme ist unser ursprüngliches Instrument, das uns von Geburt an gegeben ist. Schon als Babys drücken wir unsere Gefühle durch Schreien, Wimmern und andere ‚musikalische Variationen‘ aus.
Laut dem Psychoanalytiker und Säuglingsforscher Daniel Stern ähnelt dieser sogenannte „Babytalk“ zwischen Eltern und Kind einem fein abgestimmten Dialog, vergleichbar mit einem improvisierten Musikstück. Dieser frühe Singsang unterstützt die emotionale Entwicklung und Persönlichkeitsbildung des Kindes und ist ein Ausdruck tiefen Urvertrauens.
Singen, ob im Chor oder allein, stärkt das emotionale Wohlbefinden und verbessert die Resilienz. Eine Fülle von Forschungsarbeiten belegt, dass Gesang nachweislich die chemische Zusammensetzung unseres Gehirns beeinflussen und damit unsere Emotionen regulieren kann.
- Selbstwert und Gemeinschaftsgefühl: Eine Studie von Betty Bailey und Jane Davidson zeigte, dass die Teilnahme von Obdachlosen an einem Chor signifikante Verbesserungen bewirkte. Viele Teilnehmende reduzierten ihren Alkohol- oder Drogenkonsum, zeigten weniger Aggression und stärkten ihre sozialen Bindungen. Die Forscher verglichen die Wirkung des Singens mit einer erfolgreichen Psychotherapie.
- Reduzierung von Stress und Angst: Singen beeinflusst die chemische Zusammensetzung des Gehirns und fördert die Ausschüttung von Glückshormonen wie Serotonin und Betaendorphin. Dieser Effekt hilft besonders Menschen mit Depressionen oder Ängsten, mehr Ruhe und Balance zu finden.
- Wellness fürs Nervensystem und Stabilisierung der Emotionen: Bereits das langsame, tiefe Atmen beim Singen – ähnlich wie bei Atemübungen – stimuliert den Vagusnerv. Dieser reguliert den Parasympathikus und hilft, den Körper zu entspannen, den Herzschlag zu senken und innere Ruhe herzustellen.
Stephen Clift und Grenville Hancox belegen ebenfalls die positiven psychologischen Auswirkungen des Singens: Zum Beispiel berichteten 89 Prozent der Mitglieder eines Universitätschores von intensiven Glücksgefühlen beim Singen, 79 Prozent fühlten sich weniger gestresst, und 58 Prozent profitierten in körperlicher Hinsicht.
Darüber hinaus zeigt die Forschung, dass nicht nur Chorsingen, sondern auch das Singen alleine unter der Dusche oder im Auto positive Auswirkungen haben kann. Engagierte Sänger sind durchschnittlich lebenszufriedener, selbstbewusster und besser in der Lage, Emotionen zu bewältigen. Diese Erkenntnisse sind auch gesellschaftlich relevant, insbesondere für Schulen und die Musikpädagogik. Musikunterricht und gemeinsames Singen fördern nicht nur die Intelligenz von Schülern, sondern auch ihre soziale Kompetenz und wirken gewaltpräventiv.
Kürzlich präsentierten Karl Adamek und Thomas Blank beeindruckende Ergebnisse zur Förderung der Entwicklung von Vorschulkindern durch Singen. In ihrer Studie „Singen in der Kindheit“ stellten sie fest, dass Kinder, die viel singen, häufiger den Schultauglichkeitstest bestanden und eine bessere Entwicklung von Sprache, Denken, Koordination und emotionaler Intelligenz zeigten.
Die physische Wirkung des Singens: „Inneres Jogging“ für das Herz-Kreislauf-System
Auch körperlich hat Singen erstaunliche Effekte. Bereits Neugeborene reagieren positiv auf den mütterlichen Gesang, der ihre Gehirndurchblutung fördert und das Herz-Kreislauf-System stabilisiert. Dieser beruhigende Effekt setzt sich auch später fort, wenn das rhythmische und kontrollierte Atmen beim Singen Körper und Geist reguliert.
- Rhythmische Synchronisation: Professor Maximilian Moser von der Universität Graz zeigte, dass Gesang und Rezitation die Körperrhythmen (insbesondere den Schlafrhythmus) beeinflussen und sogar blockierte Rhythmen wieder ins Gleichgewicht bringen können. Insbesondere das langsame Ausatmen beim Singen fördert die Aktivität des Parasympathikus, was den Blutdruck senkt und den Herzrhythmus beruhigt.
- Abbau von Stresshormonen und Ausschüttung von Glückshormonen: Nach etwa 20 bis 30 Minuten Singen sinkt der Adrenalinspiegel, während Glückshormone wie Dopamin und Serotonin freigesetzt werden. Diese biochemischen Effekte ähneln jenen, die durch andere Belohnungsreize wie Schokolade oder Sport ausgelöst werden. Dies wurde u.a. in einer Studie von Thomas Biegl an der Universität Wien nachgewiesen.
- Stärkung des Immunsystems: Singen steigert die Produktion von Immunglobulin A, was das Immunsystem stärkt und die Abwehrkräfte gegen Krankheitserreger erhöht.
- Verbesserte Atmung und Sauerstoffversorgung: Die tiefere Atmung beim Singen erhöht die Sauerstoffzufuhr und steigert die Herz-Kreislauf-Fitness, vergleichbar mit leichtem „innerem Jogging“.
Singen hat einen ähnlichen Einfluss auf das Gehirn wie Stimuli wie Sex, Schokolade und Rauschdrogen, da es das gehirneigene Belohnungssystem aktiviert und Dopamin sowie körpereigene Opiate ausschüttet. Gleichzeitig hemmt es die Aktivierung von Hirnzentren, die mit Angst und negativen Erfahrungen in Verbindung stehen.
Quelle: Artikel „Gesundheit: Singen heilt“ von Wolfgang Bossinger aus der Zeitschrift „Psychologie Heute“ 01/07, erschienen in der Januar-Ausgabe 2007.